Visual

Chronifizierung psychosozialer Auffälligkeiten

Laut der DAK Gesundheit hat jedes fünfte Kind psychische Probleme, die sehr unterschiedlich ausfallen können. Die Spanne reicht von Verlustsituationen, die verarbeitet werden müssen, über andauernde Belastungssituationen, Einsamkeit, Langeweile, uvm.

Eltern sind inzwischen sensibler geworden: ihre häufig erste Anlaufstelle ist die Kinderarztpraxis. Denn häufig sind es somatische Erscheinungen wie etwa unspezifische Bauch- oder Kopfschmerzen, die psychische oder psychosoziale Probleme augenscheinlich werden lassen. Nicht selten sind es aber auch nicht-somatische Indizien, die in Kinderarztpraxen zum Behandlungsspektrum gehören: schulische Probleme, Konzentrationsstörungen, bei denen somatische Ursachen ausgeschlossen werden können, Medienkonsum o.ä.. Häufig werden solche Indizien bei „Routineuntersuchungen“ wie den U‘s entdeckt. Allerdings werden sie dort nicht systematisch mit einer ausführlichen psychosozialen Anamnese ermittelt, sondern punktuell und auf Grund der langjährigen Erfahrung und Kenntnisse der pädiatrischen Praxen augenscheinlich. Die Möglichkeit, solch eine Systematik mit der im September 2016 neu gefassten Kinderrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) für die Kinder- Früherkennungsuntersuchungen einzuführen, wurde – nach jahrelangen Verhandlungen – nicht wahrgenommen. Noch gravierender stellt sich die Versorgungslücke im Anschluss dar: es fehlt an einer einheitlich koordinierten Vorgehensweise in der Versorgungsüberleitung zwischen Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychotherapie und kommunaler Jugendhilfe, selbst wenn ein Handlungsbedarf bereits identifiziert wurde.

Im Rahmen eines ersten Workshops im Juni 2016 wurden diese Problematiken thematisiert und aus zwei verschiedenen Sichtweisen beleuchtet. Dabei sollten weniger die Ursachen im Fokus stehen, sondern vielmehr die Frage aufgeworfen werden, wie die Versorgung bei psychischen Erkrankungen bzw. psychosozialen Problemen gestaltet werden sollte, damit nicht zu viele Probleme unversorgt oder gar unentdeckt bleiben. Pädiater allein kommen hier schnell an ihre Grenzen. Die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren und anderen Professionen ist gefragt!

Beiträge:
Dr. Burkhard Lawrenz, Landesverbandsvorsitzender Westfalen-Lippe im Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V.
Anja Kopa & Julia Pacho, Kompetenznetz der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen in Westfalen-Lippe e.V.

Identifikation von psychosozialen Problemen in der Kinder- und Jugendarztpraxis

Praxen für Kinder- und Jugendmedizin erfüllen eine besondere Rolle in der Erkennung von psychosozialen Auffälligkeiten bzw. Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Dies liegt insbesondere daran, dass über 82% der Kinder regelmäßig im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen in den Arztpraxen vorstellig werden[1] und in der Regel der behandelnde Pädiater mit den Kindern, Jugendlichen und ihren Familien langjährig vertraut ist. Das derzeitige Vorsorgeinstrument des G-BA, das gelbe Vorsorgeheft (U-Heft), ist allerdings nicht auf die Identifikation psychosozialer Probleme ausgelegt, da es fast ausschließlich somatische Faktoren abfragt. Eine Neuauflage dieses gelben Heftes ist durch den G-BA in Bearbeitung. Doch die angedachten Erneuerungen sind nach Einschätzung des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte e.V. (bvkj) nicht ausreichend. Der bvkj hat daher ein eigenes erweitertes Vorsorgeheft „Paed.Plus“ (grünes Heft) entwickelt, das ergänzend zu dem gelben Heft verwendet werden kann. Damit können auch Maßnahmen im Sinne der Primärprävention hinsichtlich psychosozialer Faktoren vorgenommen werden, während das Kinder-Untersuchungsheft des G-BA im Sinne der reinen Früherkennung eher auf Sekundärprävention ausgelegt ist. Seit Juli 2013 wird das Erweiterte Vorsorgeheft für Kinder und Jugendliche Paed.Plus im Rahmen verschiedener Selektivverträge mit Krankenkassen in der Praxis angewendet und erprobt. Die Rückmeldungen der teilnehmenden Kinder- und Jugendärzte in Bezug auf eine individualisierte Risikobewertung in sozialmedizinischen Kontexten sind bislang durchweg positiv. Hierbei werden ab dem 2. Lebensmonat des Kindes Instrumente eingesetzt, die entweder von den Eltern[2] oder – ab der J1, mit 13 Jahren – von den Patientinnen und Patienten[3] selbst ausgefüllt werden. Diese Instrumente liefern den Medizinerinnen und Medizinern Anhaltspunkte, um Krankheiten und sozial-emotionale Fehlentwicklungen (etwa in den Bereichen Bewegung, Ernährung, Medienkonsum und Eltern-Kind-Interaktion) frühzeitig zu erkennen und entsprechend ihrer Möglichkeiten zu verhindern.

Mit dem Erkenntnisgewinn über die Problematiken der Kinder und Jugendlichen endet aber meistens schon der Handlungsspielraum der niedergelassenen Pädiaterinnen und Pädiater. In der Regel ist der Verweis an andere Stellen (Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, Familienpsychologen, Jugendämter, Erziehungsberatungsstellen o.ä.) ihre einzige Möglichkeit zur Intervention. Die konkrete Zusammenarbeit mit den genannten Stellen ist für die Ärztinnen und Ärzte schwierig, da sie in der aktiven Zusammenarbeit nicht nur ihr eigentliches Aufgabenfeld verlassen, sondern vor allem jedwede Netzwerk- und Austauschaktivitäten mit versorgenden Akteuren (z.B. aus dem Bereich der frühen Hilfen) in Eigeninitiative gestalten müssen.

Netzwerkarbeit in der Kinder- und Jugendpsychotherapie

Die Rahmenbedingungen in der kinder- und jugendpsychotherapeutischen Versorgung sind vor allem durch eine niedrige Angebotsdichte von Psychotherapiepraxen mit Kassenzulassung geprägt. Besonders im Ruhrgebiet ist diese Problematik noch verstärkt, da hier lediglich 11,3 Kinder- und Jugendpsychotherapeuten pro 100.00 Einwohner eine Zulassung haben – im Vergleich zum Bundesdurchschnitt mit 38 Therapeuten pro 100.000 Einwohner. Dies führt zu einem erhöhten Arbeitsdruck bzw. zu verlängerten Wartezeiten bei der Therapieplatzsuche.

Auch in der Kinder- und Jugendpsychotherapie ist der Austausch mit anderen Akteuren, die ebenfalls an einem therapeutischen Erfolg beteiligt sein können, wie z.B. Schulen, Kindertagesstätten, Pädiatern, Jugendämtern, etc., mit der Maßgabe des Einverständnisses der Eltern (Schweigepflichtentbindung) nur in Form von Eigeninitiative möglich. Formen der Vernetzung können dabei sowohl der direkte Austausch zwischen zwei Akteuren, beispielsweise zwischen den beteiligten Praxen, als auch der Austausch in größeren Runden wie runden Tischen oder Stadtteilkonferenzen sein. Im Sinne der Vernetzung zwischen Pädiatern und Psychotherapeuten wäre ein systematisiertes Berichtswesen des Therapierverlaufs in regelmäßigen Abständen wünschenswert. Doch auch hierzu müssten für weitere Vernetzungsaktivitäten bessere Voraussetzungen im Sinne einer Vergütung geschaffen werden.

[1] Laut KIGGS nehmen vier von fünf Kindern an allen Krankheitsfrüherkennungsuntersuchungen vollständig teilgenommen (KIGGS Welle1 im Zeitraum von 2009 und 2012).

[2] Elternfragebogen nach M. Papousek (U3 – U6) bzw. Mannheimer Elternfragebogen nach G. Esser und M. Laucht (U7 – U11)

[3] Mannheimer Jugendlichenfragebogen nach G. Esser (J1 + J2)